Freitag, 12. September 2008

Gefallene Kriegerpuppen, Liszts Warzen und düstere Unanständigkeiten einer bleichen Diseuse


Franz Liszt spielt in einem bürgerlichen Salon.
 Historische Gruppe im nicht mehr existierenden Berliner Panoptikum. Katalog 1993

In dem Roman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull von Thomas Mann erlebt der Titelheld bei seiner ersten Inspektion der auf ihn so überwältigend wirkenden Metropole Paris gleich drei für die Großstädte um die Jahrhundertwende typische Unterhaltungsstätten: ein Panorama, ein Varieté und natürlich das Panoptikum. Die Beschreibung des Panoramas kann als beispielhaft für viele dieser großen Rundgemälde in eigens dafür erbauten Gebäuden gelten. Ein ganz ähnliches Panorama befindet sich noch heute in Luzern. (www.bourbakipanorama.ch)

(...) Den Zeitvertreib nach dem Kaffeestündchen angehend, so ergötzte ich mich für geringes Eintrittsgeld am Beschauen eines herrlichen Rundgemäldes, das in voller Landschaftsausdehnung, mit brennenden Dörfern und wimmelnd von russischen, österreichischen und französischen Truppen die Schlacht von Austerlitz darstellte: so vorzüglich, dass man kaum vermochte, die Grenze zwischen dem nur Gemalten und den vordergründigen Wirklichkeiten, weggeworfenen Waffen, Tornistern unnd gefallenen Kriegerpuppen, wahrzunehmen. Auf einem Hügel beobachtete der Kaiser Napoléon, umgeben von seinem Stabe, die strategische Lage durch ein Fernrohr. Gehoben von diesem Anblick, besuchte ich auch noch ein anderes Spektakel, ein Panoptikum, wo man auf Schritt und Tritt zu seiner schreckhaften Freude mit allerlei Potentaten, Groß-Defraudanten, ruhmgekrönten Künstlern und namhaften Frauenmördern zusammenstieß, jeden Augenblick gewärtig, von ihnen auf du und du angeredet zu werden. Der Abbé Liszt saß da mit langem weißen Haar und den natürlichsten Warzen im Gesicht an einem Flügel und griff, den Fuß auf dem Pedal und die Augen gen Himmel gerichtet, mit wächsernen Händen in die Tasten, während nahebei General Bazaine einen Revolver gegen seine Schläfe richtete, aber nicht abdrückte. Es waren packende Eindrücke für ein junges Gemüt, allein meine aufnehmenden Fähigkeiten waren trotz Liszt und Lesseps erschöpft. Der Abend war eingefallen über vorstehenden Erlebnissen; strahlend wie gestern, mit bunten, wechselweise erlöschenden und wiederaufflammenden Werbelichtern winkend, erleuchtete sich Paris, und nach einigem Flanieren verbrachte ich anderthalb Stunden in einem Varieté-Theater, wo Seelöwen brennende Petroleumlampen auf der Nase balancierten, ein Zauberkünstler jemandes goldene Uhr in einem Mörser zerstampfte, um sie dann einem völlig unbeteiligten Zuschauer, der weit zurück im Parterre gesessen hatte, wohlbehalten aus der hinteren Hosentasche zu ziehen, eine bleiche Diseuse in langen schawarzen Handschuhen mit Grabesstimme düstere Unanständigkeiten in den Saal lancierte und ein Herr meisterhaft aus dem Bauche sprach. (...)

Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil. Taschenbuchausgabe Frankfurt/M. 1989, S.172f