Sonntag, 16. November 2008

Eine höchst wunderliche Generalversammlung menschlicher Zustände


anatomisches Wachspräparat (Detail), Sammlung Nagel 

Gottfried Keller (1819-1890) skizziert in seinem Tagebucheintrag vom 1. Mai 1848 ein Bild des Jahrmarkts um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Künstler und „Besitzer von Merkwürdigkeiten“ werben vor ihren grell bemalten Schaubuden um das Publikum.

Das eine besondere morbide, beklemmende Atmosphäre ausstrahlende Wachsfigurenkabinett beinhaltet neben Wachsfiguren bereits „anatomisch-patholgische“ Ausstellungsstücke sowie Feuchtpräparate „in einer langen Reihe von Gläsern“.
Moulagen (krankhafter) Körperteile und Organe sowie verschiedene in Paraffin oder Spiritus konservierte Präparate zählten im 19. Jahrhundert zunehmend zum festen Bestand der Panoptiken und trugen nicht unwesentlich zu der schaurigen Wirkung bei.
In erster Linie wurde hiermit natürlich auf einfache Schaugelüste abgezielt. Vordergründig vertraten die Schausteller mit ihren „wissenschaftlichen“ Ausstellungen hingegen den Anspruch der Volksaufklärung bzw. –belehrung.
  
„Am Abend des 1. Mai 1848 
(…)
Ich ging in die Stadt, wo Jahrmarkt war. Es war viel Volk hereingekommen und trieb sich emsig herum, doch war sein Verkehr mehr scheinbar; denn alles klagte über den großen Geldmangel und die schlimme Zeit. Am fröhlichsten waren die jungen Soldaten, welche in ihren neuen Uniformen der Not und der Bestürzung des Tages vergaßen und singend umherzogen. Wann werden die Frühlinge nahen, wo diese blutroten Menschenblumen nicht mehr jedesmal mit den tausend andern Blumen hervorkriechen und ihre unheilvolle Pracht an der Sonne spiegeln?
Am meisten niedergeschlagen waren die Künstler und die Besitzer von Merkwürdigkeiten, weil fast niemand um ihre Produktionen sich bekümmern mochte. Da standen sie in ihren traurigen bunten Jacken vor den Buden und stießen unsicher und klagend in die schadhaften Trompeten, daß einem die Tränen in die Augen traten. Weil das Volk kein Geld hatte, so spottete es zum erstenmal über diese Herrlichkeiten, welche es sonst bewunderte, und die Gaukler standen scheu und schlotternd vor ihren gemalten Wundern.
Ich trat in ein Wachskabinett; die Gesellschaft der Potentaten sah sehr liederlich und vernachlässigt aus, es war eine erschreckende Einsamkeit, und ich eilte durch sie hin in einen abgeschlossenen Raum, wo eine anatomische Sammlung zu sehen war. Da fand man fast alle Teile des menschlichen Körpers künstlich in Wachs nachgebildet, die meisten in kranken, schreckbaren Zuständen, eine höchst wunderliche Generalversammlung von menschlichen Zuständen, welche eine Adresse an den Schöpfer zu beraten schien. Ein ungeheuer großes Herz, welches seinen Eigner getötet hatte, führte das Präsidium, und ein sehr schön ausgebildeter Magenkrebs schien der Sekretär oder Schriftführer zu sein. Ein ansehnlicher Teil der ehrenwerten Gesellschaft bestand aus einer langen Reihe Gläser, welche vom kleinsten Embryo an bis zum fertigen Fötus die Gestalten des angehenden Menschen enthielten. Diese waren nicht aus Wachs, sondern Naturgewächs und saßen im Weingeist in sehr tiefsinnigen Positionen. Diese Nachdenklichkeit fiel um so mehr auf, als diese Burschen  eigentlich die hoffnungsvolle Jugend der Versammlung vorstellten. Plötzlich aber fing in der Seiltänzerhütte nebenan, welche nur durch eine dünne Bretterwand abgeschieden war, eine laute Musik mit Trommel und Zimbeln zu spielen an, das Seil wurde getreten, die Wand erzitterte, und dahin war die stille Aufmerksamkeit der kleinen Personen, sie begannen zu zittern und zu tanzen nach dem Takte der wilden Polka, die drüben erklang; das große Herz mochte noch so geschwollen aussehen, der Magenkrebs noch so rot werden vor Ärger, es trat Anarchie ein, und ich glaube nicht, daß die Adresse zustande kam. Die einzige Merkwürdigkeit des Marktes, welche einigen Zuspruch erhielt, war ein Rhinozeros. Das Schicksal dieser antediluvianischen Bestie ist eng mit dem Fall des Königtums in Frankreich verknüpft, indem sie für den Jardin des plantes in Paris bestellt, aber von der provisorischen Regierung wieder abbestellt wurde, weil man dort jetzt das Geld sonst brauche. Heimatlos irrt das altmodische Tier nun in der Schweiz umher, doch ist es nicht brotlos, da seine Seltsamkeit und sein Horn auf der Nase ihm ein hinlängliches Auskommen sichern. Wohl jedem, der in diesen Zeiten etwas Rechtes gelernt hat!“

Gottfried Keller: Das Tagebuch und das Traumbuch. (1847/48). 2. Aufl. Klosterberg, Basel 1945, S.93f
.