Sonntag, 12. Juli 2009

Pst!


Fotografie von Jindrich Styrsky (Bildquelle: www.jedinak.cz) 


Das Berliner Passagepanoptikum in unmittelbarer Nachbarschaft von Castans Panoptikum stand immer im Schatten seines berühmten und älteren Konkurrenten, dessen bisherige Ausstellungsräume man gleich übernommen hatte, nachdem Castan zwecks Vergrößerung seiner Ausstellung in ein neues Gebäude in der Friedrichstraße umgezogen war. Obwohl das neue Unternehmen sehr von der bekannten Adresse profitierte und viele Berliner dort weiterhin Castans Etablissement wähnten, stellte sich der Erfolg erst ein, als die Betreiber verstärkt auf drastische und gruselige Effekte vor allem in der Schreckenskammer und im anatomischen Kabinett setzten. So konnte das Passagepanoptikum den einstigen Konkurrenten sogar noch um einige wenige Jahre überleben - und es erhielt am Ende durch Egon Erwin Kisch ein wunderbar ironisches, atmosphärisch-dichtes literarisches Denkmal:
"Geheimkabinett des anatomischen Museums
Das Schönste von Berlin ist die Linden-Passage.
Das Schönste von der Linden-Passage ist das Passagepanoptikum.
Das Schönste vom Passagepanoptikum ist das anatomische Museum.
Das Schönste vom anatomischen Museum ist das Extrakabinett.
Das Schönste vom Extrakabinett ist - pst!
Zur Führung des Beweises für die Richtigkeit oben angeschlagener viereinhalb Thesen sei vorerst die Tatsache hingeschrieben, dass es nirgends in Berlin solchen Mangel an Hast gibt wie in der Passage, solche Losgelöstheit vom Materialistischen wie in der subkutanen Verbindung zwischen der utilitaristischen Friedrichstraße und den repräsentativen Linden. Die Straße mag dem Verkehr dienen, die Passage gewiss nicht. (Wenigstens nicht dem Verkehr im allgemeinen.) Hier ist noch geradezu ein Abendkorso. Hier lustwandelt, ja lustwandelt man zwischen Jahrmarktsromantik und warmer Liebe; die Bücherläden stellen keine Lehrbücher zum Verständnis des Kurszettels und keine Wälzer über die Kriegsursachen aus; sondern „Das Liebesleben des Urnings“, „Als ich Männerkleider trug“, Die Renaissance des Eros Uranos“, Die Grausamkeit mit besonderer Bezugnahme auf sexuelle Faktoren“, Das Recht des dritten Geschlechts“, „Gynäkomastie, Feminismus und Hermaphroditismus“; das Schaufenster der Bilderhandlung ist fei von Liebermann, Pechstein oder Brangwyn-Graphik, aber auch von Linoleumschnitten frei, wir sehen badende Knaben auf den Felsen der Blauen Grotte und ein blondes unschuldvolles Mädchen, bloß mit Gretchenfrisur bekleidet; auch ein Panorama ist da – die fossile Zwischenstufe zwischen Daguerreotypie und Kintopp – mit allwöchentlich wechselndem Programm, ein chiromantischer Automat ruft mit großer Aufschrift, Konfitürengeschäfte, Spezialgummiwaren, Botenjungengesellschaft, zwei Schnellphotographen, Automatenbüfett, eine Duftei halten ihre Ladentür lange offen.
Das Passagepanoptikum ist das einzige, das uns seit Castans Ende noch geblieben ist. Mit herrlichen Genregruppen aus Wachs, „Das Duell“, „Ein verliebter Schornsteinfeger“, „Heimgezahlt“, „Ein verpatzter Hochzeitsfrack“, „Aller Anfang ist schwer“ (besonders beim Parademarsch! Hochaktuell!), „Barbarossa im Kyffhäuser“, „Am Tor des Findelhauses“, „Berlin bei Nacht oder der Jüngling im Séparée“, der Fürstensaal und die Akademie der Berühmtheiten, Märchensaal und humoristischer Vexierspiegel, sehr humoristisch, und die berühmte „Verbrechergeschichte von der Tat zum Schafott in acht Bildergruppen“, wovon besonders Nummer hundertfünf (Einbruch in die Totenkammer und Leichenraub) ziemlich bezaubernd ist. Dabei ist all das – was mit Nachdruck bemerkt sei – keineswegs belehrend, sondern eher – was mit Lob bemerkt sei – irreführend, ebenso wie man die Darbietungen der Automaten im Vestibül, „Geheimnisse des Schlafzimmers“, „Das Astloch im Zaun des Damenbades“, „Heirat auf Probe“, nicht etwa für aufschlussreich halten darf. Junge Freunde, die ihr vor den Gucklöchern mit gezücktem Fünfzigpfennigstück Polonäse steht, glaubt mir erfahrenem Greise, es ist unwahr, dass in einem Schlafzimmer fünf miese und (zum Glück) sehr bekleidete Weiber der achtziger Jahre in den Posen eines Cancans zu erstarren pflegen! Der Automat „Die Brautnacht“ funktioniert übrigens nicht, trotzdem nichts anzeigt, dass er außer Betrieb ist, seid also gewarnt, Mädchen!
Kommt, vertieft euch vielmehr in die Betrachtung der zwar arg verblassten, aber dafür wirklichen, wahren und naturgetreuen Photographien oben an der rechten Wand: Dort hängt unter Glas und Rahmen die Porträtgalerie jener Berühmtheiten, zu denen vielleicht unsere Eltern pilgerten und sicherlich am Sonntag deren Dienstmädchen, die Ruhmeshalle jener Abnormitäten, die mit großen Plakaten und lauten Ausrufern durch die Welt zogen, um sich bestaunen zu lassen. Nichts ist von ihnen mehr erhalten als höchstens ein Präparat in irgendeiner pathologisch-anatomischen Klinik – und diese vergilbte Walhall im Vestibül des Passagepanoptikums. Grüßet sie ehrerbietig! Lionel, der Löwenmensch, der Liebling der Frauen und Jungfrauen – so siehst du aus! -, ist da, Hunyady János, der Mann mit dem Vogelkopf, ist auch da, das Riesenkind Elisabeth Liska aus Russland, elf Jahre alt, zwei Meter zehn hoch, die hinten zusammengewachsenen Schwestern Bozena und Milada Blazek, Miss Crassé, das Tigermädchen, die riesige Tiroler Mariedl beim Melken ihrer Lieblingskuh, Riesenbackfisch Dora, La belle Annita, die tätowierte Schönheit, Prinzessin Kolibri, die kleinste Dame der Welt, Pirjakoff, der größte Mensch, der je gelebt hat, Machnow, der größte Mensch, der je gelebt hat, Hassan ben Ali, der größte Mensch, der je gelebt hat, Mr. Masso, der Kettensprenger, Haarathlet Simson, Hungerkünstler Papus und Hungerkünstler Succi, Mr. Tabor, der Muskelmensch mit dem dreifach gedrehten Arm, die behaarte Miß Pastrana, der lange Josef, der größte Soldat der preußischen Armee, mit Toni Marti, dem schwersten Knaben der Welt, die Schwestern Willfried, die stärksten Kinder der Welt, anderthalb und zweieinviertel Jahre alt, November 1902. Ach niemand besieht das Pantheon dieser Größen von einst, deren Leben es war, umherzufahren in der Welt, sich schauzustellen vor einem Zehnpfennigpublikum im matten Vormittagslicht eines Kirchweihzeltes oder eines Gasthauszimmers oder im allzu grellen Schein der abendlichen Zirkusmanege. Ausgebeutet, wiesen sie auf ihren monströsen Geburtsfehler und erklärten ihn mit papierenem, eingelerntem Text. Oder waren sie stolz auf ihn? Wir wissen nichts mehr von ihnen, als dass sie auch im Passagepanoptikum zu Berlin gastierten. Hier blieb ihr Bild bestehen, doch verblasst es von Jahr zu Jahr.
Viel besichtigter ist drüben, am anderen Ufer der Passage im Halbstock, das Anatomische Museum. Auch hier locken schon unten Puppen die Pupen und die Nutten an und jene, die es werden wollen. Ein wächserner Virchow, vor einem Totenschädel dozierend, ist stummer Ausrufer, im Vereine mit einem Mädchen, das auch die inneren Geheimnisse preisgibt, weil sogar die Bauchhöhle aufgedeckt ist; eine Reklametafel zeigt die Wirkungen des Miedertragens und ruft: ‘Erkenne dich selbst – so schützest du dich.’ Es kostet zwölf Mark fünfzig, sich selbst zu erkennen, wovon zwei Papiermark auf die Vergnügungssteuer entfallen; das Extrakabinett, ‘nur für Erwachsene’, erfordert kein Sonderentree. Ein Vorhang teilt dieses Allerheiligste der Passage vom profanen Teil des Anatomischen Museums und ist Besuchern unter achtzehn Jahren nicht zugänglich. Eine Tafel, von Viertelstunde zu Viertelstunde umgedreht, kündet: ‘Jetzt nur für Damen’, bzw.: ‘Jetzt nur für Herren’. Das eben ausgesperrte Geschlecht hat inzwischen in den ungeheimen Räumen herumzulungern, sich die plastischen Darstellungen des Verdauungsprozesses, der Hämorriden, der Cholerawirkungen, einer Zungenkrebsoperation, der Verheerungen des Branntweins in den Eingeweiden und dergleichen anzusehen und im Automaten die Gebärmutteroperation. Dann aber, dann dürfen die erwachsenen Herren bzw. die erwachsenen Damen - achtzehn Jahre ist man hier gewöhnlich mit vierzehn Jahren - in das Sanktuarium eintreten, wo die Chromoplastiken in natürlicher Größe all das zeigen, was man im Konversationslexikon nur schwer begreifen vermochte und worüber das Leben nur fallweise aufklärt.
Es ist alles echt oder lebenswahr, leibhaftige Fötusse, die Entwicklung des Menschen von der Befruchtung bis zur Normal-, Steiß- oder Zangengeburt, Perforation oder Kaiserschnitt; Organe und so weiter – alles bis aufs Haar genau und im Katalog noch genauer erklärt. Mit Recht ist in der Rubrik „Weibliche Geschlechtskrankheiten“ als erstes Schauobjekt das Hymen oder Jungfrauenhäutchen angeführt, denn von allen besagten Krankheiten ist diese am raschesten heilbar. Sie ist selten, und man bestaunt das Objekt sehr. Allzulange aber nicht, denn nur ein Viertelstündchen darfst du weilen, draußen scharrt schon das andere Geschlecht.
Die Linden-Passage hat ihr unverrückbares Stammpublikum, keine Straße besitzt so viele Freunde und so geschlossenen Verehrerkreis. Und von denen, die der Passage Freunde sind, lieben einige das Panoptikum heiß und treu; unter diesen sind Fanatiker des Anatomischen Museums und von diesen wiederum manche unbedingte Hörige der Geheimkammer, gebannt von irgendeiner Vitrine. Die ist demnach das Liebste der Auserlesenen – das Schönste also von Berlin. Was nämlich zu beweisen war.“
Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter. In: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Berlin und Weimar 1978, S. 170-174
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Samstag, 11. Juli 2009

Damals, als ich ein Kind war, gab’s noch Zwerge


Titel eines Führeres von 1899, Sammlung Nagel 


1922 wurde Castans Panoptikum, seinerzeit eines der renommiertesten Wachsfigurenkabinette, geschlossen und die Exponate versteigert. Bieter der Figuren und Reliquien – „alles notariell beglaubigt“ - waren Antiquitätenhändler, Theaterausstatter, Liebhaber und nicht zuletzt Schaubudenbesitzer. Manch reisendes Panoptikum wird durch Castans Ende beträchtliche Aufwertung erfahren haben…
Paul Schlesinger schilderte in der Vossischen Zeitung vom 20.2.1922 seine Eindrücke von einem letzten Besuch am Vorabend der Versteigerung. Die Abschiedsvisite wird zu einem Trip in Erfahrungswelt der eigenen Kindheit:
Abschiedsvisite bei Castan
Nur auf diesem Wege anstandshalber die Mitteilung, dass ich Dir, lieber Castan, heute einen heimlichen Abschiedsbesuch gemacht habe. Mittwoch wird dein Panoptikum versteigert. Einmal wollte ich noch sehen, was eigentlich bei Dir los war.
Die Heimlichkeit war nicht sehr freiwillig. Ich ging rasch in den großen Restaurationssaal, in dem von Tischen, Stühlen, Waffen, Bildern ein ziemliches Durcheinander herrschte. Einen einsamen Herrn sah ich bei einem halben Glase Bier sitzen. Ich ging nur zwei Schritte auf ihn zu – dann erkannte ich: das ist immer noch der gleiche Herr aus Wachs, der seit meiner Kindheit Tagen an dem Tische saß und von so vielen Provinzlern angesprochen wurde: wieviel Uhr es denn sei – oder so. Das Widersehen mit mir ging nicht ohne Erschütterung vor sich. Damals war der einsame Herr viel älter als ich. Heut, nach mehr als 30 Jahren, bin ich etwas älter als er – oder viel viel älter.
(…) Auf der Treppe las ich die Worte: ´Zur Schreckenskammer`. Schon zwängte sich aus vergittertem Fenster ein Sträfling zur Flucht. Mein Herz stand still. An die Schreckenskammer hatte ich nicht gedacht. Nichts hatte ich als Kind mehr gefürchtet als diese Treppe, und nie hatte ich sie betreten. Und jetzt wollte ich so einfach weil die Herren gerade oben seien – so geschäftsmäßig kühl da hinaufgehen? Ich musste mich zusammennehmen. Ich stieg hinauf, ich trat ein. Die Herren waren gar nicht da, aber etwas anderes, Fürchterliches stürzte auf mich. Das entsetzliche schweigsame Alleinsein mit 50 wächsernen Mördern und Mörderinnen. Sie standen herum, ihre abgeschlagenen Häupter hingen an den Wänden. Folterinstrumente, Beile, schreiende Menschen, gemartert von der erfinderischen Justiz aller Jahrhunderte – und ich allein, wieder das gequälte Kind, das unten an der Treppe wartete, während die älteren Geschwister so ruhig hinaufgegangen waren – fort, nur fort.
Ich stolperte die Treppe hinunter. Erst vor Dornröschen beruhigte ich mich. Nun bewegte der Elektromotor nicht mehr ihren Busen, der früher so regelmäßig auf und nieder ging. Dann kam ich zu den Riesen, deren Namen ich früher so genau kannte, und die ich nun alle vergessen habe. Und daneben stand immer noch Herr Ulpts, der Zwerg, den ich doch lebendig gekannt hatte. Damals, als ich ein Kind war, gab’s noch Zwerge. Ich trete an einen vergitterten Balkon, und ich sehe hinab in den berühmten Kaisersaal, in dieses feierlich tote Gewimmel von wächsernen Gestalten! War hier nicht einst die Kaiserproklamation nachgebildet? Die beiden Gardes-du-Corps in rotem Wams stehen immer noch zu Füßen des Podiums. Aber dann, das weiß ich auch noch, stand Wilhelm II. vor dem Thronsessel. Er ist nicht mehr da; an seiner Stelle sitzt, grausig puppenhaft von Hermelin umflossen, Friedrich der Große, König von Preußen – den letzten hat der erste abgelöst. Links von ihm erkenne ich eine feldgraue Gruppe: Hindenburg und Ludendorff.
Mir ist, als hätte wer geseufzt. Ich blicke auf: Dort drüben ist noch ein Balkon, über ihn lehnt sich eine dunkle, schlanke Dame. Hat sie geseufzt? Aber nein, sie ist ja aus Wachs und wartet nur, dass sie unter den Hammer kommt.
Es zieht mich hinunter in den Saal der prunkenden Uniformen. Bismarck, Moltke, Prinz Friedrich Karl – sie haben ihre stolze, ablehnende Haltung mir gegenüber seit 30 Jahren bewahrt. Da Kaiser Friedrich, daneben an der Wand doch noch Wilhelm II. Kein Lüftchen bewegt seinen Federbusch. Welch wächserne, gläserne Oede in dieser Fürstengruft! Eine Bewegung, eine einzige, und es müsste klirren von Orden, Ketten, Waffen. Nichts. Nur ich – lebe. Eigentlich sind sie alle wehrlos, auch Sie, Herr Poincaré, mit dem Ordensband, und ihre britische Majestät…
Und Goethe, Schiller, Wagner, Rubinstein – musste das sein? Hat das sein müssen, lieber Castan? Da steht auch Ebert neben Scheidemann.Weiß Gott, niemals war ich so überzeugt vom Vorzug der Unberühmtheit.
Da –ich lache hell auf! Ihr seid noch alle da, ihr geliebten Vexierspiegel? Wer kann das widerstehen? Ich will ganz allein über mich lachen. Ich mache mich ganz dick und ich zerfließe in die Breite. Ich schneide eine Grimasse – ha, mein Mund reicht von Paris nach Petersburg. Und nun ganz dünn. Ich will doch probieren, ob ich so aussehen kann, wie ich eigentlich aussehen möchte – so ist es gut. So ungefähr. Das sit mein seelisches Format. Wnn ich mich so photographieren lassen könnte … ich dreh’ mich nur halb – was ist das? Mein Bauch ist gewölbt, geschwollen, ein Ballon – ich lache laut – mich erschreckt mein eigenes Lachen.
Fort – hinaus. Adjö, lieber Castan. Hinaus auf die graue, trübe Friedrichstraße. Sie ist verwahrlost, im Straßenschmutz liegen Bettler, an den Ecken schreien die Händler. Jawohl – wir haben den Krieg verloren; aber wir sind nicht aus Wachs, wir leben.
Zusammenfassend, lieber Castan: Als ich ein Kind war, hast Du mir wohl Spaß gemacht. Heute warst du ein schwerer, furchtbarer Traum. Und ich weiß nicht, welcher deiner Säle keine Schreckenskammer war. Und nun ziehe in Frieden. Ich weiß, deine Lebensarbeit ist nicht tot. Deine Puppen werden nicht zerschlagen, nur versteigert. Sie werden sich da oder dort auftun, und das Volk wird staunen, und die Kinder werden gaffen und sich fürchten. Aber ich bin von dir erlöst – für den Rest meiner Tage.“

Paul Schlesinger („Sling“): Abschiedvisite bei Castans. In Vossische Zeitung vom 20.2.1922, zit. n. Angelika Friederici: Castans Panopticum. Ein Medium wird besichtigt. Heft F1 – Castans Könige im Ramsch. Berlin 2008