Sonntag, 19. Dezember 2010

Der Amtmann als Räuber

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Filmplakat 1960er Jahre

Die Physiognomien der Verbrecher in den reisenden Wachsfigurenkabinetten werden in vielen Fällen ebenso wenig den Originalen entsprochen haben wie ihre Bekleidung oder die ausgestellten Tatwerkzeuge. Machte ein Betrüger oder Mörder Schlagzeilen, so brachte die zeitnahe Präsentation seiner wächsernen Kopie einen großen Werbeeffekt. Die Schausteller waren daher stets um die Aktualität ihrer "Verbrechergalerien" bemüht, wozu oftmals einfach eine vorhandene Figur entsprechend ausstaffiert und gekennzeichnet wurde.
Auch die großen, in die Geschichte eingegangenen Schurken vergangener Tage entsprachen mitunter nicht ihren Vorbildern - ein Umstand, den Ludwig Tieck  zum Anlass einer überaus humorvollen Episode in seiner Novelle "Der Jahrmarkt" von 1832 nahm:

" (...) Dieser Gang führte sie wieder aus der Stadt in die Promenaden, und zugleich zu einer Reihe von großen hölzernen Gebäuden in welchen verschiedene Schau-Ausstellungen sich der Betrachtung boten.
Man las die verschiedenen lobpreisenden Zettel und Ankündigungen, und dem Amtmann schien ein großes berühmtes Kabinett von Wachsfiguren, in welchem viele bekannte tote und lebende Menschen ausgestellt waren, am anlockendsten.
Man bezahlte den Eintrittspreis. Die Thür ward geöffnet, und der Amtmann, welcher als der Vornehmste voran schritt, wandte sich an einen wohlgekleideten Herren, welcher gleich rechts stand, mit der Frage: ist es erlaubt, allenthalben ganz nahe hinzu zu treten? Die Pfarrerin und Rosine, die jetzt folgten, verneigten sich vor den schimmernden herausgeputzten Figuren demütig, und der Amtmann nahm es fast übel, daß der freundliche Herr ihn keiner Antwort würdigte, bis er inne ward, mit welchem er sich unterhielt, eben auch nichts Besseres, als eine wächserne Larve sei.
Da es noch früh am Tage war, fanden sie nur wenige andre Beschauer, und die beiden Familien vom Lande waren im Genuß um so heitrer und weniger befangen. Prinzessinnen Als man sich genug von den Potentaten und den Diamanten der Prinzessinen hatte blenden lassen, so nahm man auch von den Gelehrten und und Bürgerlichen in dieser Kunst-Ausstellung einige Kenntnis. Plötzlich eilte der Amtmann nach einem Winkel und deutete, daß seine Begleitung ihm folgen solle. Hier stand eine Figur in altfränkischen Galakleidern, in einem betreßten Rock, seidenen Strümpfen, mit Degen und dem Hut unter dem Arm, das breite, stark gefärbte Gesicht lächelnd und grinsend. Nun, sagte der Amtmann erfreut; kennen sie, Pastor, diesen Mann?
Nein, sagte dieser, und doch schwebt mir wie eine Erinnerung vor, als wenn ich diese Figur schon einmal sollte gesehen haben.
Ei! Ei! rief der Amtmann halb verdrüßlich; sehn Sie doch nur die Kleider an! Es werden jetzt fünf oder sechs Jahre sein, daß ein umfahrender Künstler auf meinem Amte einkehrte und auch an meinem Tische aß. Er suchte mich, weil ich ihn freundlich aufgenommen hatte, zu zeichnen, er kopierte und bossierte, färbte und künstelte, und hatte auch mit Wachs zu schaffen. Er ließ mir auch keine Ruhe, bis ich ihm mein ältestes Galakleid für einen mäßigen Preis verkaufte, wozu ich auch endlich mich bequemte, weil ich es, wie mir meine Gattin vorstellte, doch niemals wieder brauchen könne, indem die Mode zu veraltet sei. Nun hat dieser Mann, der wohl mit dem Kabinetthalter verwandt ist, meine Gestalt hier unter alle diese erlauchten und berühmten Menschen aus Dankbarkeit ausgestellt. Denn, sehn Sie nur etwas genauer hin, so werden Sie gewiß, wenn auch vielleicht nicht ganz täuschend ähnlich, meine Physiognomie erkennen.
Alle erkannten jetzt den Amtmann an seinen ehemaligen Kleidern, und Fritz war hocherfreut, seinen Papa in so einer würdigen Gesellschaft stehn zu sehn. Ja, rief Titus aus, Sie stehn hier zwischen Voltaire und Friedrich dem Großen, Sie haben sich Ihrer Nachbarschaft nicht zu schämen
Einige Mädchen, in Gesellschaft von jungen Leuten, waren auch näher getreten, und der Prediger ersuchte jetzt den bewanderten Titus, die Nummer in dem Verzeichnis nachzusehn, und ihnen vorzulesen, auf welche Art ihr würdiger Freund in dem gedruckten Blatt beschrieben würde. Titus las:
'Dieses geistreiche Gesicht mit dem seinen bedeutsamen Lächeln' -
Der Amtmann verbeugte sich errötend, indem er mit leiser Stimme sagte: es muß mich beschämen, daß diese freundliche Gesinnung nun so allgemein aller Welt mitgeteilt wird. Indessen ist es schmeichelhaft, seinen Mitbürgern und wohlwollenden Zeitgenossen auf diese Weise vorgeführt zu werden. Fahren Sie fort, Herr von Titus.
Titus las weiter: 'mit dieser Haltung, die ganz den vollendeten Weltmann verkündet, der immer nur in den vornehmsten Cirkeln gelebt hat, ' -
Man schmeichelt aber, warf der Amtmann ein, und übertreibt.
'in dessen Physiognomie, las Titus weiter, Menschenfreundlichkeit, Wohlwollen, Großmut und jede edle Tugend sich zu verkündigen scheint,' -
Ich weiß nicht, unterbrach der Amtmann wieder, das ganze Gesicht von Röte und Bescheidenheit übergossen,  wie ich nur, nach diesen Lobpreisungen, auf den Straßen werde wandeln können. Aber dir, mein Sohn Fritz, sei diese Begebenheit eine Aufmunterung, immerdar der Bahn der Tugend getreu zu bleiben. Du siehst, auch das verborgene Verdienst wird nicht verkannt, auch aus der stillen Einsamkeit wird es an das Licht des Tages gezogen, auch der schweigenden Tugend schlägt die Stunde der Anerkennung. Gib mir die Hand darauf, mein Sohn, daß du in meine Fußstapfen treten willst. - Fritz schüttelte des Vaters Rechte und machte fast eine Miene, als wenn er vor Rührung weinen wollte. - Weiter! befahl hierauf der Amtmann in einem barschen Tone, indem er sich gerade aufrecht stellte, und stolz seiner Copie ins grinsende Antlitz schaute. 
Titus aber fiel in einen seltsamen Husten, der gar nicht endigen wollte, sein Gesicht verzog sich gewaltsam, als wenn er zu ersticken fürchtete. Fritz klopfte dem Kämpfenden in den Rücken, um ihn zu erleichtern, und als der Krampf sich beruhigt hatte, las der Erschöpfte mit matter Stimme:
'Wer würde in dieser anmutigen Bildung jenen Bösewicht, den weltbekannten Cartouche, der ehemals in Paris  eine so große Rolle spielte, wieder erkennen? Der Künstler hat das Gesicht genau nach einem authentischen Gemälde gebildet, die Kleider sind ebenfalls dieselben, in welchen der Bösewicht die vornehmsten Gesellschaften zu besuchen pflegte" --
Es ist nicht möglich, den Zorn, Schreck, das Entsetzen des Amtmanns zu beschreiben, als er diesen Artikel vorlesen hörte. Nein, schrie er mit donnernder Stimme, hier ist mehr als kriminell, mehr als Hochverrat! Himmel und Erde! Das muß einem ehrbaren Mann, einem tugendhaften Staatsbürger begegnen! Schändlicher, als im imfamsten Pasquill ausgestellt zu werden! Das verdient mit dem Scheiterhaufen, mit dem Fluche der Mit- und Nachwelt bestraft zu werden!
Es waren indessen noch mehr Neugierige herein getreten, und alles drängte sich neugierig um die Gruppe, welche den deklamierenden Amtmann umgab. Die Besitzer des Kabinetts, als sie dies wilde Schreien hörten, stürzten ebenfalls herein, weil sie fürchteten, es sei einer ihrer Figuren ein Unglück zugestoßen. Alles fragte, drängte, schrie, man wollte den empörten Amtmann zu Gute sprechen, aber vergeblich. Man hatte genug zu tun, den Wütenden nur mit Gewalt von seinem Ebenbild zurück zu halten, welches er zertrümmern wollte. Die Eigentümer schickten nach der Wache, doch ehe diese noch anlangte, trat der Polizei-Präsident, welcher vorüber gehend das Lärmen vernommen hatte, in das Getümmel. 
Er ließ sich den Fall vortragen, nachdem es ihm gelungen war, den Amtmann einigermaßen zu beruhigen. Der Besitzer des Kunstwerkes erörterte dagegen: er habe schon vor zwei Jahren diese Figur, welche dem fremden Herrn so großen Anstoß erregt, von einem nicht unberühmten Wachskünstler eingekauft, welcher sie ihm unter dem Namen des berüchtigten Diebes und Spitzbuben Cartouche verhandelt habe. Er habe die Figur lieber als einen neueren Charakter gut oder böse ausstellen wollen, am liebsten als den Mörder Louvet, oder als den Demagogen Hunt, weil jede Zeit sich selbst doch immer am nächsten, und Cartoche so gut wie vergessen sei: nur Gewissenhaftigkeit und redliche Gesinnung habe ihn abgehalten, so als Wiedertäufer zu schalten, und es schmerze ihn, daß ein Kunstverwandter ihn so schmerzlich hintergangen habe. (...)"


Tieck, Ludwig: Werke in vier Bänden. Bd. III: Novellen. München 1985